Unter Geschichte verstehen wir drei Dinge. Zum einen ist damit die Gesamtheit der Vergangenheit gemeint, vom Urknall bis zur Gegenwart. Zum zweiten meint Geschichte die Vergangenheit der Menschheit, die als Bedingung unserer gegenwärtigen Realität verstanden wird. Zum dritten ist Geschichte aber auch eine Wissenschaft. Jede Wissenschaft beruht auf Beobachtungen, die Menschen machen und die diese dann kritisch überprüfen, kontextualisieren und interpretieren.
Geschichte ist nicht wie jede andere Wissenschaft. Sie hat zwei Seiten, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Zum einen sind die Methodiken der Erforschung wichtig, zum anderen die Vermittlung der Ergebnisse. Leopold von Ranke, einer der wichtigen Vordenker der heutigen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert schrieb:
„Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaften, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt, findet, durchdringt, Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte wieder gestaltet, darstellt. […] Als Wissenschaft ist sie der Philosophie, als Kunst der Poesie verwandt.“
Leopold von Ranke, Idee der Universalhistorie, in: Volker Dotterweich / Walter P. Fuchs (Hrsg.), Vorlesungseinleitungen (= Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4), Wien 1975, S. 75.
Sprache spielt also in der Geschichtswissenschaft eine sehr große Rolle, sei es als Trägermedium von Information, aus dem man schöpft, als auch als Form des Ausdrucks der eigenen Gedanken und Ergebnisse. Seit der Zeit von Rankes hat sich vieles getan, doch im Prinzip behält er noch immer Recht. Dieses hat viel mit der Tragweite von geschichtswissenschaftlichen Erzeugnissen zu tun. Sie erfüllen nicht nur einen wissenschaftlichen Zweck, sondern sind auch den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Diskursen dienlich. Daneben haben sie als Teil der Kultur auch einen ästhetischen Anspruch, denn die Geschichte ist auch Teil der Unterhaltung.
Um mit Sprache angemessen umzugehen ist es unerlässlich, sich einige Gedanken zu ihrem Charakter und Stellenwert zu machen. Es gibt wichtige theoretische Grundlagen, die man kennen muss, wenn man sich wissenschaftlich mit Sprache auseinandersetzt. Ein besonders wichtiger Grundbegriff ist der linguistic turn. Diese Umwälzung in den Denken hat die Entwicklung der Geschichtswissenschaft – und der Kulturwissenschaften ganz allgemein – maßgeblich beeinflusst. Eine kurze und griffige Definition für diesen Prozess ist kaum leistbar; allerdings kann man feststellen, dass ein grundlegendes Umdenken in Bezug auf Sprache stattgefunden hat:
„Linguistic turn, der Begriff bezeichnet eine Reihe von sehr unterschiedlichen Entwicklungen im abendländischen Denken des 20. Jh.s. Allen gemeinsam ist eine grundlegende Skepsis gegenüber der Vorstellung, Sprache sei ein transparentes Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit. Diese Sicht wird durch die Auffassung von Sprache als unhintergehbare Bedingung des Denkens ersetzt. Danach ist alle menschliche Erkenntnis durch Sprache strukturiert; Wirklichkeit jenseits von Sprache ist nicht existent oder zumindest nicht erreichbar. Wichtigste Folgen sind, daß Reflexion des Denkens, bes. die Philosophie, damit zur Sprachkritik wird und daß Reflexion sprachlicher Formen, auch der Lit., nur unter den Bedingungen des reflektierten Gegenstandes, eben der Sprache, geschehen kann […].“
Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 2004, S. 386.
Sprache ist also demnach ein untaugliches Mittel, um historisches Geschehen – „geschichtliche Wirklichkeit“ – zu konservieren, um sie der Nachwelt als Abbild einer vergangenen Realität zu hinterlassen. Wollten von Ranke und die Historiker des 19. Jahrhunderts durch die Erforschung der Vergangenheit noch erfahren „wie es wirklich gewesen“ ist, ist seit den Umwälzungen des lingustic turn klar: Eine als Textwissenschaft betriebene Geschichtswissenschaft kann nicht Vergangenheit als historische Realität erforschen, sondern nur die Erinnerungen daran.
Als Wissenschaft betrachtet die Geschichte also die von Menschen erinnerte Vergangenheit und ihre Deutung, d.h. nicht das gesamte historische Geschehen ist im Fokus der Geschichte, sondern nur die Erinnerung daran. Simone Lässig schreibt dazu:
„Geschichte beinhaltet, ja ist geronnene Erfahrung von Menschen – Individuen wie sozialen Gruppen –, die ihrem Leben, ihren Biographien und den Verhältnissen, in denen sie lebten, einen Sinn zu geben versuchen […].“
Simone Lässig, Als der Talmud peinlich wurde… Über die Bildung der Sinne im Judentum des frühen 19. Jahrhunderts, in: Christian Frey et al (Hrsg.), Sinngeschichten. Kulturgeschichtliche Beiträge für Ute Daniel, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 139-151, S. 139.
Zumeist „gerinnt“ Erfahrung in Form von Texten. (Schrift-)Sprache ist für den Historiker nicht nur Roh- sondern auch Werkstoff, mit dem neue Sichten auf die erinnerte Vergangenheit geschaffen werden. Es ist daher notwendig über den Charakter von Sprache intensiv nachzudenken.
Geschichte als Wissenschaft hat aber auch unter der diesen Grundvoraussetzungen den Anspruch, sich ein möglichst genaues Bild von der Vergangenheit zu machen. Die Geschichte an sich, die für den Historiker aus den Erinnerungen an die Vergangenheit besteht, ist immer das Ergebnis menschlichen Handelns und Wirkens – ihre Elementarteilchen sind Zeichen menschlichen Wirkens. Der Mensch in seinen kulturellen, natürlichen und soziologischen Kontexten steht dabei im Mittelpunkt des Interesses. Unter diesem Aspekt ist Geschichtswissenschaft ein Teil der anthropologischen Wissenschaftsdisziplinen.
Bedingungen und Voraussetzungen menschlichen Handelns wird zum einen durch persönliche Dispositionen, zum anderen durch äußere Faktoren bestimmt. Diese zu identifizieren, zu bewerten und in Beziehung zu anderen Erkenntnissen zu setzen hilft, historische Prozesse zu erklären und so Reflexionswissen zu schaffen, das als kultureller Mehrwert der Gesellschaft zur Verfügung steht.
Daneben konservieren die Quellen auch historische Wahrnehmungen. Geschichte besteht aus Geschichten, die immer eine subjektive Sichtweise auf Ereignisse werfen, aber auch allgemeine zeitgenössische Konventionen bewahren. Um solche historische Wahrnehmungen zu erforschen, ist es nicht zwingend notwendig, sich mit Texten zu beschäftigen, die Erinnerungen an vergangene Handlungen zum Thema haben, hier sind durchaus auch künstlerische Texte verwertbar.