Europa als Aufgabe

Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs stand Europa an einem Wendepunkt. Nie wieder sollte der Kontinent Schauplatz eines derart verheerenden Konflikts werden. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1951 war ein erster Schritt, der weit über wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausging. Sie legte den Grundstein für ein Friedensprojekt, das bis heute einzigartig ist: Ehemalige Erzfeinde wie Frankreich und Deutschland banden ihre Volkswirtschaften so eng zusammen, dass Krieg zwischen ihnen undenkbar wurde. Doch Europa ist mehr als ein technokratisches Konstrukt – es ist eine Idee, die auf Werten wie Demokratie, Menschenrechten und der gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Stabilität beruht. Dieses Projekt verlangt nach einer kritischen historischen Perspektive, um seine Erfolge und Herausforderungen zu verstehen und die Grundlagen für eine gemeinsame Zukunft zu bewahren.

Durch die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs erkannten zahlreiche Staatsmänner die Notwendigkeit eines vereinten Europas, um Frieden und Stabilität zu sichern. Eine herausragende Rolle spielte dabei Winston Churchill, der am 19. September 1946 an der Universität Zürich eine visionäre Rede hielt. Er skizzierte die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ und betonte die Bedeutung der europäischen Familie: „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“ Churchill appellierte an die europäischen Nationen, ihre Differenzen zu überwinden und gemeinsam eine Struktur zu schaffen, die Frieden, Sicherheit und Freiheit gewährleistet. Seine Worte, „Darum sage ich Ihnen: Lassen Sie Europa entstehen!“ inspirierten eine Generation von Politikern und Denkern, die den Grundstein für die heutige Europäische Union legten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schnell klar, dass Europa angesichts der geopolitischen Spannungen des Kalten Krieges und der wachsenden militärischen Macht der Sowjetunion seine Sicherheit nur durch Zusammenarbeit gewährleisten konnte. Die Idee einer gemeinsamen Verteidigungspolitik entstand aus der Überzeugung, dass die nationalen Armeen allein nicht ausreichen würden, um Frieden und Stabilität auf dem Kontinent zu sichern. Bereits 1948 wurde mit dem Brüsseler Pakt eine erste westliche Verteidigungsallianz ins Leben gerufen, die später in die NATO integriert wurde. Doch vielen führenden Politikern in Europa ging diese transatlantische Lösung nicht weit genug – sie forderten eine engere europäische Zusammenarbeit.

Die Pläne für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die in den frühen 1950er-Jahren diskutiert wurden, zielten darauf ab, eine supranationale europäische Armee zu schaffen. Diese Armee sollte nicht nur die einzelnen Mitgliedsstaaten militärisch stärken, sondern auch ein Zeichen der politischen Integration setzen. Der damalige französische Premierminister René Pleven beschrieb die EVG als „einen neuen Weg, der Europa dazu führen soll, eines Tages einig und stark zu sein“. Die Bundesrepublik Deutschland wurde in diese Pläne einbezogen, was insbesondere durch die Himmeroder Denkschrift von 1950 unterstützt wurde. Darin wurde der Gedanke formuliert, dass Deutschland nicht isoliert, sondern eingebunden in ein gemeinsames europäisches Verteidigungssystem zur Stabilität beitragen müsse.

Trotz großer Visionen scheiterte die EVG 1954, als die französische Nationalversammlung die Pläne ablehnte. Der Traum von einer europäischen Armee war damit vorerst begraben. Dennoch zeigte sich schon damals: Europas Sicherheit ist untrennbar mit seiner politischen und militärischen Zusammenarbeit verbunden. In den folgenden Jahrzehnten wurden diese Grundideen immer wieder aufgegriffen, sei es durch die Gründung der WEU (Westeuropäische Union) oder die verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit innerhalb der EU ab den 1990er-Jahren. Der Grundgedanke blieb stets derselbe: Europa kann seine Sicherheit nur gemeinsam gewährleisten, und diese Einsicht hat ihren Ursprung in den frühen Weichenstellungen der Nachkriegszeit.

Die Europäische Union steht seit ihrer Gründung immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Bürokratie, mangelnde Transparenz und Uneinigkeit unter den Mitgliedsstaaten sind nur einige der Vorwürfe, die regelmäßig erhoben werden. Doch trotz all ihrer Schwächen bleibt die EU ein unverzichtbares Projekt. Sie ist mehr als ein Zusammenschluss wirtschaftlicher Interessen – sie ist ein Garant für Frieden, Stabilität und Zusammenarbeit in einer Welt, die zunehmend von globalen Krisen geprägt ist. Ein Scheitern der EU wäre nicht nur ein Rückschritt für den Kontinent, sondern würde auch eine gefährliche Rückkehr zu nationalistischen Tendenzen und unkontrollierten Machtspielen bedeuten. Wie Winston Churchill einst sagte: „Wenn Europa gespalten ist, werden wir scheitern; wenn Europa geeint ist, werden wir siegen.“ Die EU mag unvollkommen sein, doch sie ist die beste Option, die wir haben, um die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu bewältigen. Der Weg nach vorne liegt nicht im Rückzug, sondern in einer Stärkung und Weiterentwicklung dieses einzigartigen Projekts.

Immer wieder wird von bestimmten politischen Kräften ein Europa der Nationalstaaten gefordert. Die Vorstellung, dass Nationalstaaten natürliche oder gar gottgegebene Einheiten seien, ist eine Illusion, die tief in das kollektive Bewusstsein eingebrannt wurde. Historisch betrachtet sind Nationalstaaten relativ junge Gebilde, die sich erst im Verlauf der Neuzeit durch politische, wirtschaftliche und kulturelle Prozesse herausgebildet haben. Sie beruhen auf konstruierten Identitäten, die durch Sprache, Geschichte und gemeinsame Symbole gefestigt wurden. Historiker wie Benedict Anderson haben Nationalstaaten treffend als „vorgestellte Gemeinschaften“ beschrieben – Gemeinschaften, die nicht auf direkten persönlichen Beziehungen, sondern auf der gemeinsamen Vorstellung einer Zugehörigkeit beruhen. Dieser kulturelle Konstruktionsprozess wird oft durch Mythen von Ursprung und Kontinuität untermauert, um den Eindruck von Unveränderlichkeit zu erzeugen. Doch die Grenzen und Identitäten, die heute als selbstverständlich gelten, sind das Ergebnis von Konflikten, Verhandlungen und historischen Zufällen. Europa hat gezeigt, dass die Überwindung dieser Konstrukte zugunsten eines größeren Gemeinwohls möglich ist. Die Europäische Union beweist, dass Staaten nicht durch Grenzen und Unterschiede definiert sein müssen, sondern durch Zusammenarbeit und gemeinsame Werte.

Als Historikerinnen und Historiker tragen wir eine besondere Verantwortung für die europäische Einigung. Unsere Aufgabe ist es, die gemeinsame Geschichte Europas in den Vordergrund zu rücken und eine Erzählung zu entwickeln, die verbindet statt zu trennen. Europa war stets ein Kontinent der Vielfalt, geprägt von Konflikten, aber auch von kulturellem Austausch, wissenschaftlichem Fortschritt und gemeinsamer Entwicklung. Diese Wechselwirkungen müssen wir sichtbar machen, um zu zeigen, dass die Idee eines geeinten Europas tief in unserer Geschichte verwurzelt ist. Von der Antike über das mittelalterliche Christentum bis hin zur Aufklärung gab es immer wieder Momente und Bewegungen, die über nationale Grenzen hinausgingen und ein gemeinsames europäisches Bewusstsein formten. Indem wir solche Geschichten erzählen, können wir Barrieren überwinden und den Blick auf das richten, was uns eint. Unsere Arbeit schafft die Grundlage für ein Europa, das nicht nur auf wirtschaftlichen Interessen basiert, sondern auf einem geteilten Verständnis seiner Vergangenheit und einem gemeinsamen Ziel für die Zukunft.

Die deutsche Nationalstaatsbildung war ein langwieriger Prozess, der durch Kriege, Revolutionen und kulturelle Auseinandersetzungen geprägt wurde. Eine Schlüsselfigur in diesem Prozess war der Freiherr vom Stein, dessen Reformen nicht nur die Modernisierung des preußischen Staates vorantrieben, sondern auch den geistigen Boden für die deutsche Einheit bereiteten. Stein erkannte die Bedeutung der Geschichte als Sinnstifter und identitätsstiftende Kraft. Mit der Gründung der Monumenta Germaniae Historica (MGH) schuf er eine Institution, die sich der Sammlung und Edition mittelalterlicher Quellen widmete, um die gemeinsame Geschichte der deutschen Länder zu dokumentieren. Für Stein war gerade das Mittelalter, die Zeit der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, ein Ankerpunkt, der ein überregionales und kulturelles Bewusstsein für das deutsche Volk schuf. Was Stein für Deutschland leistete, müssen wir Historikerinnen und Historiker heute für Europa leisten: Die europäische Geschichte muss als ein gemeinsames Erbe verstanden und erzählt werden. Nur so können wir eine Identität schaffen, die über nationale Grenzen hinausgeht und Europa als kulturelle Einheit stärkt – nicht nur in der Vergangenheit, sondern vor allem für die Zukunft.

Die europäische Geschichte ist reich an Beispielen, die zeigen, wie eng die Kulturen und Gesellschaften des Kontinents miteinander verflochten sind. Die Fürstenhäuser Europas bilden ein herausragendes Symbol dieser Gemeinsamkeiten: Dynastische Verbindungen durch Heiraten schufen Netzwerke, die Grenzen überschritten und politische Allianzen stärkten. Familien wie die Habsburger, die Capetinger oder die Anjou prägten nicht nur einzelne Länder, sondern ganze Regionen Europas. Ebenso verbindend war das kulturelle Phänomen der Burgen. Von den normannischen Kastellen in England bis zu den steinernen Höhenburgen des Mittelmeerraums – Burgen waren Ausdruck einer geteilten adligen Kultur, die sich durch Architektur, Lebensweise und militärische Technik definierte. Das Rittertum, mit seinem Ideal von Ehre, Tapferkeit und Loyalität, war eine weitere universelle Erscheinung, die von Island bis Zypern Anerkennung fand. Ritterorden wie die Templer oder der Deutsche Orden agierten sogar transnational. Diese Phänomene zeigen: Europa war schon immer durch gemeinsame Traditionen, Werte und kulturelle Errungenschaften verbunden, die es heute wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken gilt.

Die Liste der Beispiele ließe sich endlos fortsetzen. Ob die universelle Sprache der Wissenschaft in der Aufklärung, die humanistischen Ideen der Renaissance oder die grenzüberschreitende Verbreitung von Kunst, Musik und Literatur – die Geschichte Europas ist eine Geschichte des Austauschs und der gemeinsamen Entwicklung. Diese Verflechtungen zeigen, dass Europa nicht nur ein geografischer Raum ist, sondern eine kulturelle und politische Einheit, die durch Zusammenarbeit gestärkt wird. In einer Zeit globaler Herausforderungen – vom Klimawandel über geopolitische Spannungen bis hin zu inneren Spaltungen – müssen wir Europa als Aufgabe begreifen. Nur ein geeintes und wehrhaftes Europa kann den Frieden sichern, der auf diesem Kontinent über Jahrhunderte so oft bedroht war. Es liegt an uns, als Historikerinnen und Historiker, diese Einheit nicht nur in der Vergangenheit aufzuzeigen, sondern als Inspiration für die Zukunft zu gestalten. Denn nur, wenn wir Europa als gemeinsames Projekt verstehen, können wir seine Errungenschaften bewahren und eine stabile Grundlage für die kommenden Generationen schaffen.